Echt jetzt? Keine Ahnung. Dafür gibt es kein Handbuch und keine Bedienungsanleitung. Ich habe bis jetzt noch nie etwas bewusst losgelassen, sondern es hat sich ergeben. Die Zeit war reif und in dem Moment genau richtig und hinterher ging es mir besser.
Genau diesen Moment hatte ich vor einigen Wochen. Ich spürte nicht genau, wann es passierte oder warum und wie, aber als ich es realisierte, atmete ich auf, war erleichtert und alles war gut.
Ich habe keinen Menschen losgelassen und keine Erinnerungen, sondern einen Teil meines Körpers, der schon zwei Jahre und sechs Monate nicht mehr da ist.
Wenn du hier schon länger liest, weißt du von meiner Diagnose Brustkrebs mit Mastektomie. Ich habe einen Teil meines Körpers verloren. Einen Teil, der für uns Frauen so selbstverständlich ist. Wir schauen nach dem Duschen in den Spiegel und denken, ja, das bin ich.
Als ich aus der Narkose der Brust-OP aufwachte, war ich nicht das heulende Elend, denn ich hatte noch eine Baustelle, die mir in dem Moment genau soviel Angst machte , vielleicht sogar noch etwas mehr. Ich hatte mir durch einen Sturz einen Tag vorher einen Lendenwirbel gebrochen. Die Schmerztabletten konnte ich nicht zählen, die ich tagsüber nahm (und ich hätte gerne noch mehr genommen) immer in der Angst, eine falsche Bewegung zu machen, mir einen Nerv einzuklemmen und dann vielleicht im Rollstuhl zu landen. Gut, wenn das alles so schlimm gewesen wäre, hätten die Ärzte wohl nicht die Brust-OP durchgeführt. Ich ließ die Versorgung nach der OP über mich ergehen und wurde zehn Tage später entlassen, um nach zwei Tagen in das nächste Krankenhaus einzuziehen und am Lendenwirbel operiert zu werden. Die Schmerzen nach dieser OP waren die Hölle und ich bekam so richtige „Knaller“ sprich Schmerztabletten. Die Wochen nach der Entlassung waren mit Physio für meinen Rücken und täglichen Bestrahlungen plus Nebenwirkungen nach meinem Brustkrebs ausgefüllt. Mir blieb wenig Zeit zum Nachdenken.
Was war aber mit meiner Brust beziehungsweise mit meiner linken Brustseite ohne Brust?
Ich sah mir die Narbe an, sie ging vom Brustbein bis unter die Achsel und der Heilungsprozess verlief gut. Natürlich war der Anblick zuerst nicht einfach, aber ich sagte mir immer, dass ich gesund werden und leben wollte. Es gab keine andere Möglichkeit.
Beim An- und Ausziehen oder nach dem Duschen schaute ich auf meine Narbe links und dann auf meine Brust rechts. Links. Rechts. Nie ein Blick auf den ganzen Brustbereich. Der Blick schweifte in dem Moment, wo ich es versuchen wollte ab. Immer wieder habe ich es probiert. Vergebens. Ich spielte mit dem Gedanken, eine psycho-onkologische Beratung aufzusuchen, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Ich konnte damit leben. Morgens legte ich meine Prothese in den Prothesen-BH und sah aus, wie vor der Brustkrebserkrankung und lebte meinen Alltag.
Durch Zufall kam ich in Kontakt mit der Firma amoena. Die Firma hat ihren Sitz in Raubling bei Rosenheim und stellt Brustprothesen, Prothesen-BHs und Bademoden her. Sie luden mich zu einem Fotoshooting ein und fragten mich, ob ich zu einem Interview bereit wäre. Dieses sollte nicht in Printform erscheinen, sondern in Form eines Films auf ihrer Webseite. Für mich war das kein Problem, da ich immer ganz offen über meine Erkrankung sprechen konnte und so sagte ich sofort zu.
Die Fragen wurden mir vorab gemailt, damit ich schon mal wusste, was da auf mich zukommen würde. Ein paar Tage später telefonierte ich eine Stunde mit Claudia, die das Interview führen würde. Sozusagen ein beiderseitiges Kennenlerngespräch. Wir verstanden uns gleich gut und wenn ich nicht weggemusst hätte, hätte das Gespräch noch länger gedauert.
Dann war der Tag da
Ich war doch etwas aufgeregt. Wenn ich das abstreiten wollte, würde ich lügen. Ein Interview, immerhin würden Scheinwerfer und eine Kamera auf mich gerichtet sein.
Der Kameramann stand im Stau und verspätete sich und ich versuchte mich abzulenken und schaute bei einem weiteren Shooting zu.
Dann endlich, der Kameramann war da, es war alles aufgebaut, es wurde der Stuhl, auf dem ich sitzen sollte, noch ausgetauscht. Mir wurde erklärt, wie ich sitzen sollte, die Scheinwerfer wurden eingestellt und es sollte noch eine Tonprobe gemacht werden. Das bedeutete, dass Claudia und ich mit dem Interview begannen. Wir hatten fast die Hälfte geschafft, da hieß es STOPP. Ton ist in Ordnung. Wir können beginnen. Alles auf Anfang. Es wurde ernst und alles selbstverständlich schön natürlich.
Foto: amoena
Aber auf einmal war doch etwas anders. Mittendrin, ich weiß nicht mehr bei welcher Frage und warum, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich wollte während der Aufnahme nicht losheulen, atmete einmal tief durch, schluckte und wir brachten das Interview zu Ende.
Warum hatte mich das Interview so getriggert?
Ich bin zurück zum Fotoshooting und war innerlich aufgewühlt. Als ich gefragt wurde, ob ich nochmal shooten wollte, habe ich sofort ja gesagt, um mich abzulenken und wieder zu beruhigen.
Foto: amoena
Wieder zu Hause
Am zweiten Tag nach meiner Reise kam ich morgens aus der Dusche, trocknete mich ab, cremte mich ein und schaute wie selbstverständlich auf meinen gesamten Brustbereich. Kein Wegschauen und kein komisches Gefühl. Kein Blick der unstet erst nach links und dann nach rechts wandert. Ich konnte mich anschauen.
Was war passiert?
Ich konnte es mir erst nicht erklären, aber dann begann ich zu überlegen. Mein Lendenwirbelbruch mit den Schmerzen und meiner Angst, es könnte daraus noch etwas Schlimmeres resultieren, hatte meine Brust-OP vollständig in den Hintergrund gedrängt. Durch die Schmerzen und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit hatte ich mich nicht mit der hinter mir liegenden Brust-OP auseinandergesetzt. Ich konnte nicht trauern (meinem Körper wurde etwas genommen) sondern hatte es einfach hingenommen. Später lebte ich meinen Alltag, als wäre alles so in Ordnung wie es ist. Da habe ich mir wohl etwas vorgemacht.
Man sagt immer so schön DU MUSST LOSLASSEN. Aber wie geht das. LOSLASSEN. Ich habe es ja gar nicht an mich herangelassen.
Die zwei Tage in Raubling haben mir noch einmal einen Schubs in mein neues Leben gegeben. Mein Selbstwertgefühl wurde durch diese zwei Tage noch um ein Vielfaches gestärkt und ich konnte meinen veränderten Körper endlich zu 100 % annehmen.
Ich habe loslassen können, nach über zwei Jahren.
Liebe Grüße
Gudrun
P. S. Wenn du dich fragst, was das Titelbild mit diesem Beitrag zu tun hat, es bedeutet Freiheit für mich, frei sein, loslassen, alles von mir abfallen lassen, aufatmen, durchatmen, Neubeginn.
* * *
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14 Antworten
Liebe Gudrun,
herzlichen Dank für deinen offenen Beitrag über deine Krankheit(en) und deinen Weg zum Loslassen. Loslassen ist ja auch tatsächlich nicht einfach und jeder geht das anders an, aber dein Ausdruck, wenn die Zeit reif dafür ist, gefällt mir gut. Du schaust übrigens toll aus, deine Haare sind super gestylt und ich werde gleich mal auf die Seite von Amoena gucken und das Video anschauen. Respekt und Hut ab meine Liebe.
Herzliche Grüße
Sigrid
Liebe Sigi, das ist lieb, dass du dir gleich das Interview anschauen möchtest, aber es ist noch nicht veröffentlicht. Ich weiß nicht, wann amoena das machen wird. Vielleicht erst, wenn die Bilder vom Fotoshooting erscheinen.
Und das meine Haare so liegen wie sie liegen war nicht beabsichtigt. 😉 Ich hatte zu Hause mein Shampoo vergessen und die im Hotel sind nicht so prall und der Fön lag auch Zuhause. Also musste ich improvisieren. 😉
Liebe Grüße
Gudrun
Da hast du ganz schön was durchstehen müssen, liebe Gudrun! Aber oft wird einem das hinterher erst so richtig bewusst, in dem Moment muss man ja irgendwie „funktionieren“ und weitermachen. Vielleicht kann man so einen Zustand auch mit Trauer vergleichen, wenn ein geliebter Mensch stirbt, muss man sich ja auch erstmal um alles kümmern, bloß nicht um die eigene Trauer… ja, „loslassen“ sagt sich wirklich einfach. Gut, dass du es schließlich geschafft hattest, dich ganz im Spiegel zu betrachten, ich finde auch, da gehört viel Mut dazu!
Manche Dinge sollte man allerdings auch festhalten. Das Steuer beim Autofahren zum Beispiel 🙂 Geliebte Menschen, die einem gut tun. Liebe, Glaube, Hoffnung… :-DDD Loslassen ist grad in aller Munde, aber du hast völlig recht, wenn du hinterfragst, was das eigentlich genau bedeutet…! Toller Post, Danke!
Liebe Grüße, Maren
Ich danke dir, Maren. Loslassen ja, aber in Erinnerung behalten, wie z. B. einen Menschen.
Dass meine Verarbeitung keine Verarbeitung war, sondern eine Verdrängung, das habe ich ja dann gemerkt.
Dir einen schönen 2. Advent und ebenso die neue Woche.
Liebe Grüße Gudrun
Ich freue mich so sehr für dich. Es war ein langer, aber erfolgreicher Weg :).
Ich wünsche dir einen schönen 2. Advent.
Ganz lieben Dank. Auch dir einen schönen 2. Advent und eine schöne Woche.
Liebe Grüße Gudrun
Das waren dann wohl auch Tränen der Erlösung. Es braucht manchmal Zeit, um loszulassen. Freut mich, dass es Dir gelungen ist.
Liebe Grüße
Sabine
Ganz lieben Dank, Sabine. Ja, manche Dinge brauchen Zeit.
Dir eine schöne Woche.
Liebe Grüße Gudrun
Liebe Gudrun,
ich kann es komplett nachvollziehen. Ich nenne das immer funktionieren. In den beiden Situationen ging es nicht anders und später, ja später, da kommt dann die Verdrängung.
Es ist zwar etwas ganz anderes, aber ich habe nie gelernt den frühen Tod meiner Mutter und den plötzlichen Tod meines Vaters zu verarbeiten. Jeder sagte immer nur, Elke die Kerzen waren abgebrannt oder wer weiss was beiden erspart geblieben ist. Aber meinen Schmerz und meine Verlust, durfte ich nie zeigen oder sagen.
Loslassen…. Irgendwann werde ich wohl auch mal diesen Moment haben oder bekommen um die beiden Situationen zu verarbeiten und dann kann ich meinen Schmerz loslassen.
Danke für diesen Artikel. Mit Tränen in den Augen antworte ich Dir, aber er tat so gut.
Liebe Grüße
Elke
Liebe Elke, ja, loslassen geht nicht mal so hoppla hopp. Jeder Mensch hat seine eigene Zeit. Ich wollte dich aber nicht zum Weinen bringen.
Liebe Grüße und eine schöne Woche
Gudrun
Ohhh Liebe Gudrun, ich war so gerührt von diesem Text, dass mir jetzt die Worte für einen Kommentar schwerfallen! Meinen großen Respekt für alles, was du durchgemacht hast!
Vielen Dank für diesen Artikel, ich werde ihn nicht nur in Erinnerung behalten, ich freue mich auch darauf, ihn bei Bedarf wieder zu lesen.
Ich freue mich so für dich, dass es dir gelungen ist loszulassen. Und du hast absolut Recht,
Loslassen ist eine Erfahrung die wir jeden Tag und jeden Moment treffen können.
Liebe Grüße,
Claudia
Liebe Claudia, danke für deine lieben Worte. Einige haben mir gesagt oder auch geschrieben, dass sie nach dem Lesen traurig waren oder geweint haben, das war nicht meine Absicht. Ich erzähle aus meinem Leben und wenn ich damit Mut machen kann, dass das Leben nach Krebs weitergeht, dann ist es das, was ich möchte. Das Thema Krebs wird mich ein Leben lang begleiten, aber wie, das habe ich in der Hand.
Ganz herzliche Grüße
Gudrun
Ich glaube, dass das sogenannte Loslassen in jedem Bereich anders verläuft. Und bei jedem Menschen eben auch. Und dass es mit Emotionen und Einstellungen zu tun hat.
Man denkt, manches passiert einfach so, aber ich glaube, da spielt eine Menge mit hinein.
Im Falle deiner Krankheit hast du sicher in den Überlebensmodus geschaltet, was sehr gut war. Aber bewältigt war das Innere damit wohl nicht. Dass das bei dem Interview irgendwie passiert ist, zeigt, dass du jetzt bereit warst.
Loslassen hat auch immer mit Akzeptanz zu tun, mit dem Abschließen einer Zeit oder eines Gefühls. So glaube ich… Manchmal ist es eine Situation zu beleuchten, zu wissen, dass etwas zu Ende geht (das können auch positive Phasen sein), sie zu reflektieren, in sich hineinzufühlen. Es kann auch der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Danke, dass du uns davon erzählt hast.
Alles Liebe und behalte immer deine (emotionale)Kraft
Nicole
Danke, Nicole, du sagst es. Jetzt fühlt sich für mich jedenfalls wieder alles richtig an.
Liebe Grüße Gudrun